Schwertrichtstätte „Rabenstein“ an der Bismarckpromenade
Die Bismarckpromenade, Marburgs schönster Wanderweg, führt am Rabenstein vorbei. Der „Rabenstein“, volkstümlich so genannt, hat eine lange Geschichte. Es war und ist eine gemauerte Anlage, auf der in früheren Zeiten zum Tode Verurteilte öffentlich mit dem Schwert oder am Galgen hingerichtet wurden. Als diese Richtstätte in Marburg erbaut wurde, gab es auf unserem Berg außerhalb der Stadt nur die beiden Hansenhäuser und keine weitere Bebauung.
Warum wurden Richtstätten außerhalb der Städte errichtet? Das hatte einen besonderen Sinn: Für die Verurteilten war es wie ein Schaulaufen vom Gefängnis bis zur Richtstätte. Neugierige säumten die Straßen, um noch einen letzten Blick auf die Person zu werfen, dessen Leben jetzt beendet werden sollte.
Wie kam es aber zu der Namensgebung „Rabenstein“? Ganz einfach: Nach jeder Hinrichtung versammelten sich dort Scharen von Raben, die sich erst einmal über den Leichnam hermachten.
Die letzte öffentliche Hinrichtung am Rabenstein war im Jahr 1864, wie auf der Gedenktafel vermerkt. Der Heimatkundler Reinhold Drusel hat das Ereignis recherchiert, schriftlich festgehalten und zur Veröffentlichung in den Hansenhaus-Nachrichten genehmigt. Es ist die wahre Geschichte, die sich in dem damaligen Dorf Ockershausen zugetragen hat. Sie beginnt im Jahr 1861.
Damals gab es dramatische Ereignisse im Alltag der Bewohner Ockershausens. Entsetzen und Alpträume löste der Mordfall vom 9. September 1861 am Dammelsberg aus. Der in Ockershausen wohnende ledige Schuhmachergeselle Ludwig Hilberg hatte die von ihm schwangere Dorothea Wiegand aus Ockershausen, genannt „das Hinkel“ heimtückisch und vorsätzlich mit dem Messer erstochen. Alle Indizien hatten für L. Hilberg als den einzigen infrage kommenden Täter gesprochen. Er wurde kurz nach der Tat festgenommen. Während des gesamten Oktobers 1861 fanden Vernehmungen statt. Am 4. November 1861 nutzte Hilberg den Fußweg vom Landgericht zum Kugelhaus, in dem die Vernehmungen stattfanden, zur Flucht. Umgehend wurde von der Polizeibehörde ein Steckbrief ausgefertigt:
„Alter 24 Jahre, Größe 5 Fuß 2 Zoll, Haare schwarz, Stirn hoch, Augen grau, Augenbrauen schwarz, Nase aufgebogen, Mund gewöhnlich, Zähne gut, Kinn rund, Bart im Entstehen, Gesicht oval, Farbe gesund, Statur kräftig, Religion lutherisch. Kleidung: Blaue Tuchmütze mit ledernem Schirm roten Streifen und Paspeln und Cocarde, schwarze Tuchweste, schwarz seidenes Halstuch, blau leinener Kittel, schwarze Buxkinhose.“
Noch ehe der Steckbrief die Amtsstube verließ, war Hilberg allerdings bereits gefasst. Er wurde nun im Hexenturm in einer extra verriegelten Zelle untergebracht. Im Januar 1862 wird der Saal in der Gaststätte Ruppersberg in Ockershausen zum Vernehmungslokal. 35 Zeugen sind geladen. Acht Monate lang füllen die Zeugenaussagen die Akten, 2300 Seiten lang. Hilberg leugnet die Tat beharrlich und beschimpft die Zeugen als Lügner. Obwohl alle Prozessbeteiligten von der Täterschaft Hilbergs überzeugt sind, ergibt das Urteil: „Freispruch aus Mangel an Beweisen“. Hilberg kommt frei und wohnt bei seiner Mutter im „Hettchehaus“ in Ockershausen. Die Stimmung im Ort war schlimmer als in den Tagen des Mordgeschehens. Angst herrschte bei den Zeugen, die gegen Hilberg ausgesagt hatten.
Argwöhnisch wurde Hilberg beobachtet. Seine Absichten auszuwandern, blieben nicht verborgen. Sie nährten den Argwohn der Justizbehörden und führten zu einer erneuten Verhaftung am 23. November 1863. Ein halbes Jahr später, am 13. Juni 1864, begann die 2. Schwurgerichts-verhandlung in „Lederers Garten“, später Turnergarten. 145 Zeugen wurden erneut vernommen. Erdrückend häufte sich nun das Beweismaterial.
Am 27. Juni 1864 wurde L. Hilberg, trotz weiteren Leugnens der Tat, zum Tode durch das Schwert verurteilt. Allein damit war das Drama noch nicht beendet. Wer vollstreckt das Urteil, da es doch im ganzen Hessenland keinen einzigen Scharfrichter mehr gibt? Der „alte Schwarz“ aus dem Hannoverschen, der zuletzt vor drei Jahren in Hanau ein Urteil vollstreckt hatte, war bereit, gegen 200 Taler das Urteil zu vollstrecken, aber wie und wo?
Der „Rabenstein“ war verfallen, die Steine lagen auf dem Kartoffelacker des Johannes Weimar nebenan. Der Zugang war nur über ausgestellte Äcker und Wiesen zu erreichen. Die Obrigkeit befürchtete ein schlimmes Spektakel. Wirtsleute hatten sich bemüht, Speisen und Getränke an der Hinrichtungsstätte darzureichen. Den wenigen Wachleuten der Veteranenabteilung in Marburg traute man nicht zu, die Ordnung bei dem erwarteten Andrang aufrecht zuhalten. Es muss also eine Wachkompanie aus Kassel anreisen. Im Hexenturm erwartete Hilberg die Zeit, bis er zu seiner Hinrichtung in das Kugelhaus überstellt wurde. Am 14. Oktober 1864, drei Jahre und 35 Tage nach dem Mord, erfolgte morgens um 8.00 Uhr die Hinrichtung. Die Fahrt des Delinquenten im offenen „Armesünderwagen“ führte vom Barfüßer Tor durch die Untergasse, nach Weidenhausen und weiter zur „Schebbe Gewissegasse“ hinauf zum Rabenstein. Die Glocken läuteten. Eine unübersehbare Menschenmenge begleitete den letzten Gang. Der Scharfrichter vollendete sein Werk. Das Militär zog unverzüglich ab. An der Richtstätte drängten sich Neugierige, die zum Entsetzen der Zuschauer für sich ein paar Tropfen des Blutes des soeben Hingerichteten ergattern wollten. Später beschwerte sich der Magistrat beim Militär, weil man zu früh den Posten an der Richtstätte verlassen hätte und dadurch erst den Tumult um den Leichnam des Hingerichteten verursacht hätte.
Es war die letzte öffentliche Hinrichtung durch das Schwert in der Stadt Marburg. Spätere Urteilsvollstreckungen in Marburg erfolgten hinter den Gefängnismauern.
Heute hat man vom Rabenstein aus einen herrlichen Blick auf die Stadt Marburg. Unterhalb des Baudenkmals wurde im letzten Jahr eine Ruhebank aufgestellt, die leider etwas versteckt steht.
Rosemarie Berghöfer